Wie schaffen Mythen Realitäten?
Heute feiern wir die Gründung der Schweizerischen Eidgenossenschaft! Wir alle kennen die sagenumwobene Geschichte des Rütlischwurs, wo die Uhrkantone ein Bündnis schlossen und somit den Gründungsakt der Eidgenossenschaft festlegten. Gründungsmythen haben eine starke kulturelle und verbindende Relevanz, die nicht unterschätzt werden darf. Zum heutigen Nationalfeiertag stellen wir uns zwei Fragen: Wie schaffen Mythen Realitäten und wie sieht die Schweiz aus in der wir leben wollen?
"Mythen sind unabdingbar. Eine Nation, eine Gemeinschaft erzeugt Mythen und Traditionen, um zu existieren und zu überleben. Diese Erzählung legitimiert Aktionen und ermöglicht es, Ereignissen einen Sinn zu geben. Das gilt für die Schweiz genau so wie für alle Gesellschaften weltweit."
- Prof. François Walter, Universität Genf
Der Gründungsmythos der Schweiz
Viele kennen sie, die Geschichte der drei Eidgenossen der Stände Uri (Walter Fürst), Schwyz (Werner Stauffacher) und Unterwalden (Arnold von Melchtal), welche sich auf der stillen Rütliwiese am Vierwaldstättersee trafen, um sich den ewigen Bund und Beistand zu schwören.
Die Historiographie der alten Eidgenossenschaft war zunächst geprägt von der volkstümlichen Form des Gründungsmythos mit Elementen wie dem Rütlischwur oder der Tellsage, wie er erstmals im Weissen Buch von Sarnen (1470er Jahre) fassbar ist und durch verschiedene Chronisten wie vor allem auch Friedrich Schillers Willhelm Tell stilisiert und popularisiert wurde. Die Mythen der Eidgenossenschaft gerieten bereits 1760 ins Zwielicht durch die Publikation des lange vergessenen lateinischen Bundesbriefes von 1291 und die Entdeckung der nordischen Wurzeln der Tellsage.
“Mythology is not a lie, mythology is poetry, it is metaphorical. It has been well said that mythology is the penultimate truth -- penultimate because the ultimate cannot be put into words. It is beyond words. Beyond images, beyond that bounding rim of the Buddhist Wheel of Becoming. Mythology pitches the mind beyond that rim, to what can be known but not told.”
- Joseph Campbell, The Power of Myth
Wie schaffte der Gründungsmythos Realitäten?
Mythen sind mehr als Erzählungen, denn sie stiften politische Bedeutung. Sie strukturieren die Vergangenheit und haben Einfluss auf die Gegenwart und gestalten so die Zukunft mit.
Das lässt sich auch in der Geschichte der Schweiz erkennen:
Der Gründungsmythos der Schweiz unterstützte zu Zeiten der alten Eidgenossenschaft (bis 1798) die Solidarität innerhalb der Bündnisse gegen aussen.
Während der moderne Nationalstaat gebildet wurde, trug der Gründungsmythos zur Bildung einer nationalen Identität bei: Die Schweiz als “Willensnation”, welche weder durch die Sprache, noch wegen der Religion eine homogene Gemeinschaft bildet. Stattdessen wurde eben diese Heterogenität, die ihren Ausdruck in der Mehrsprachigkeit oder dem föderalistischen System findet, zu einem wichtigen Aspekt der “nationalen Kultur”.
Während den Weltkriegen wurde der Gründungsmythos auch für die Aufrechterhaltung der Neutralität verwendet: Mit den Alpen als Schauplatz der eigenen Gründungsgeschichte, als Metapher der Freiheit und Unabhängigkeit.
Fragen zum Gedankenanstoss:
Brauchen wir heute einen neuen Mythos, um unsere Vision einer zukünftigen Schweiz zu unterstützen? Wenn ja, wie stellst du dir diesen vor?
Weshalb machst du was du heute machst? Wie ist es dazu gekommen?
Wie sieht die Schweiz aus, in der du Leben möchtest?
“We need myths that will identify the individual not with his local group but with the planet.”
- Joseph Campbell, The Power of Myth
Ein kurzer Geschichtsüberblick für Interessierte:
1291 | Alte Eidgenossenschaft BÜNDNISPARTNERSCHAFTEN
Wechselnde Bündnisse zwischen Städten und Landschaften bezwecken die Sicherung der politischen Ordnung gegen innen und der Unabhängigkeit gegen aussen. 1291 schliessen Uri, Schwyz und Unterwalden das erste dokumentierte Bündnis ab. Der Begriff «Eitgenoze» taucht 1315 auf. Im Lauf der Jahrhunderte wächst die Eidgenossenschaft durch weitere Bündnisse und durch Gebietseroberungen.1798 –1802 | Helvetik EINHEITSSTAAT UNTER FREMDER HERRSCHAFT
Nach dem Einmarsch französischer Truppen wird die Eidgenossenschaft zur Helvetischen Republik umgestaltet: zu einem Einheitsstaat unter pariser Kontrolle.1803 –1814 | Mediation GELOCKERTE FREMDHERRSCHAFT
Nach Bürgerkriegen zwischen Föderalisten und Anhängern der Helvetischen Republik gibt Napoleon der Schweiz eine Mediationsverfassung. Sie gibt den Kantonen eine gewisse Eigenständigkeit zurück und legt die meisten Kantonsgrenzen fest.1815 | Bundesvertrag NEUTRALITÄT UND STAATENBUND
Nach dem Sturz Napoleons anerkennen die europäischen Grossmächte die Neutralität der Schweiz, und die heute gültigen Landesgrenzen werden fixiert. Der Bundesvertrag von 1815 fasst die verschiedenen eidgenössischen Bündnisse zu einem einzigen Staatenbund zusammen. Dieser ist für die Sicherheitspolitik zuständig.1847–1848 | Sonderbundskrieg LIBERALE GEGEN KONSERVATIVE
Bei der Frage nach der Ausgestaltung des Bundes kommt es schlussendlich zu einem Bürgerkrieg zwischen liberalen und katholischkonservativen Kantonen. Der Sonderbundskrieg endet mit dem Sieg der liberalen Kräfte.1848 | Bundesverfassung DEMOKRATISCHER BUNDESSTAAT
Die Bundesverfassung gewährt den meisten Bürgern – Männern – verschiedene Rechte und Freiheiten, u. a. das Stimm- und Wahlrecht (Frauenstimmrecht erst ab 1971). Auf Bundesebene wird nach amerikanischem Vorbild das Zweikammersystem eingeführt, mit einem National- und einem Ständerat, die den Bundesrat wählen. Einige Bereiche werden zentralisiert. Die Schweiz entwickelt sich zum einheitlichen Rechts- und Wirtschaftsraum.
Wie sieht die Schweiz aus, in welcher du leben willst?
Im Rahmen des ersten Collaboratio Festivals vom 18. Juni 2018 haben wir unterschiedlichen Menschen in der Schweiz diese Frage gestellt. Wie sieht deine Vision einer zukünftigen Schweiz aus? Teile sie mit uns unter dem Hashtag #visionCH!
Quellen
https://www.swissinfo.ch/ger/kultur/fuenfte-schweiz_schweizer-clubs-haengen-am-gruendungsmythos-der-eidgenossenschaft/42354122
http://www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D26413.php?topdf=1
https://www.ekm.admin.ch/ekm/de/home/identitaet---zusammenhalt/identitaet/ident_natstaaten.html
Lichtmann, Tamàs (2010): Die Schweiz als Erzählung: Nationale und narrative identitätskonstruktionen in Max Frischs Stiller, Wilhelm Tell für die Schule und Dienstbüchlein. Peter Lang, Frankfurt am Main.
Im Hof, Ulrich (1990): Nationale Identität der Schweiz: Konstanten im Wandel. In: Schweizer Monatshefte : Zeitschrift für Politik, Wirtschaft, Kultur. (70).
Quelle: https://www.bk.admin.ch/bk/de/home/dokumentation/der-bund-kurz-erklaert.html