Coronavirus – Karriereknick für unsere Kinder?

Am 16. März wurden per bundesrätlichen Beschluss alle Schulen in der Schweiz geschlossen. Auch die KITAs und ausserschulischen Betreuungsplätze sind vielerorts nur noch für Kinder von Eltern in systemrelevanten Berufen geöffnet. Kindergartenkinder, Primarschülerinnen und -schüler sind seither zuhause bei ihren Eltern – in vielen Fällen bei ihren arbeitenden Eltern. Auf die Fragen der anwesenden Journalistinnen und Journalisten an der Medienkonferenz vom 13. März, wie denn die Kinder betreut werden sollten, sagte der Bundesrat, dass er auf die Kooperation der Unternehmen vertraue. So versuchen sich nun also seit dem 16. März  Zehntausende von Eltern im Arbeiten von Zuhause aus - mit ihren Kindern. Damit aber nicht genug: Um, wie es die Erziehungsdirektorenkonferenz der Schweiz sagte, «einen Knick in der Bildungskarriere unserer Kinder» zu verhindern, sind die arbeitenden Eltern nun noch zu Lehrerinnen und Lehrern geworden - in den seltensten Fällen mit entsprechender Qualifikation. Verständlich, dass der Lockdown der Schweiz für viele Eltern zur Nervenprobe geworden ist. Es gilt dafür zu sorgen, dass das Kind nicht zurückfällt. Nur: Bei was genau? 

Die Maschine am Laufen halten?

Seit einigen Jahren ist zu beobachten, wie immer mehr renommierte Expertinnen, Kinderärzte und -psychologinnen auf eine bedenkliche Entwicklung unserer Kinder hinweisen. Mit Aussagen wie «Das Burnout ist bei den Kindern angekommen», «Faule Eltern sind gute Eltern», «Immer mehr Kinder leiden an Stress» oder «Die Kinder wurden stimulationssüchtig gemacht» wollen sie aufrütteln und unserer Gesellschaft klar machen, dass wir blind (oder sogar sehenden Auges?) in die falsche Richtung rennen. Immer mehr Eltern teilen diese Beiträge und kommentieren auf Social Media den Druck, das Non-Stop-Programm und die schulischen und freizeitbezogenen Anforderungen an unsere Kinder. Und nun das: Schulen, Sportklubs, Musikschulen geschlossen. Kein Programm mehr. Ein bislang ungekannter Zustand für uns alle. Was nun? Sofortiges und in vielen Fällen umfangreiches Homeschooling heisst das Gebot der Stunde. Per Post, Mail, WhatsApp, Telefon und was sonst noch an Kanälen zur Verfügung steht, werden die Eltern mit Unterrichtsstoff für ihre Kinder beliefert. Mit Aufgaben in allen Fächern und detaillierten Stundenplänen wurde der schulische Alltag an den Küchentisch der Schweizer Familien transferiert. Erstaunt und zugegebenermassen mit einer guten Portion Ungläubigkeit betrachte ich die Social Media Posts mit Bildern akribisch geführter Zeitpläne, von Mama selbst im Grossformat für die Wohnzimmerwand gebastelt und am ersten Montag der Schulschliessung einsatzbereit. Denn selbstverständlich findet auch der Geigenunterricht virtuell statt – gleiche Zeit, neuer Ort. Die Sportlehrer schicken Videos, damit die Kinder nicht aus der Übung kommen. Kein Knick in der Tanz-, Musik-, Kampfsport-, Kunstturn-Karriere unserer Kinder bitte. Die Eltern werden zu Lehrpersonen, Sporttrainerinnen und Überwachern der musikalischen Fortschritte. #homeschooling #newjob #teachermom und so weiter. Sind das die gleichen Eltern, die eben noch Remo Largo’s Warnung zum Zustand unserer Kinder teilten? Das Rad dreht sich für viele Eltern und Kinder während der Coronakrise trotz Lockdown nicht langsamer, sondern noch schneller. 

Wie wäre es mit Vertrauen?

Und wie wäre es, wenn wir diese ausserordentliche Situation als Chance betrachten und unseren Kindern die Möglichkeit bieten, selbstbestimmter zu lernen? Denn sie werden lernen – auch ohne Stundenplan, ohne Schulstoff, ohne Homeschooling-Eltern. Wie wäre es, wenn wir unsere Angst vor einem späteren Karriereknick (welcher Art auch immer) unserer Kindergarten- und Primarschulkinder loslassen? Wenn wir die Kinder spielen und sich langweilen lassen? Vielleicht entdecken sie (und wir) ihre Kreativität neu, vielleicht erfahren sie ihre Selbstwirksamkeit, vielleicht lernen sie, mit sich selbst zufrieden zu sein – ganz ohne vorgegebenes Programm. Wäre das nicht die wichtigste Lektion, um aus unseren Kindern einst lebenstüchtige Erwachsene zu machen? Von welchem Knick in der Bildungskarriere sprechen wir eigentlich, wenn die Zweitklässlerin nicht die Aufgaben von der – mit dieser neuen Situation in vielen Fällen ebenfalls überforderten – Schule macht und stattdessen mehr malt, die Käfer im Gras studiert oder interessiert mittels Kindernachrichten das Weltgeschehen verfolgt? Im Zuge des Lockdowns hätten wir alle die Möglichkeit, die Zügel zu lockern, den Kindern ein Stück ihrer so wichtigen Freiheit zurückzugeben, sie spielerisch und selbstbestimmt lernen zu lassen, was sie in diesem Moment lernen möchten – wenn es heute der vorgegeben Schulstoff ist, gut so. Vielleicht aber ist es morgen das gemeinsame Kochen oder Waschen, das Spielen in der Wiese, die Langeweile und daraus resultierend das Basteln ohne Vorgaben. Was, wenn wir unseren Kindern die Möglichkeit geben würden, wieder selbst zu entdecken, aus dem Hamsterrad – das wir alle für sie gebaut haben – auszusteigen? Ist, was wir heute erleben, nicht eine einzigartige Gelegenheit, etwas Neues auszuprobieren? Was, wenn wir unsere Angst vor Kontrollverlust und Ungewissheit loslassen würden? Könnten Kinder dann wieder Kinder sein? Wenigstens für ein paar Wochen?


hat Journalismus und Organisationskommunikation studiert und hat einen MBA mit Schwerpunkt Nachhaltigkeitsmanagement. Sie arbeitet im Bereich Kommunikation und Medienarbeit für collaboratio helvetica sowie als selbstständige Kommunikationsberaterin. Ihre Leidenschaft gilt dem Storytelling und der "Übersetzung" komplexer Inhalte. Sie verfügt über langjährige Erfahrung als Kommunikationsprofi in verschiedenen internationalen Unternehmen und Organisationen. Ihre Motivation ist die tiefe Überzeugung, dass Veränderung möglich ist, wenn sie gemeinsam vorangetrieben wird - mit Kreativität, Empathie und Grosszügigkeit. Als Teil von collaboratio helvetica kann sie zur sozialen Innovation und zur Umsetzung der Ziele der Nachhaltigen Entwicklung in der Schweiz beitragen, indem sie ihre beruflichen Fähigkeiten mit ihren Werten und ihrer Leidenschaft verbindet.

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