Die Kastanienjagd
Die Sonne strahlte mir entgegen, als ich entschlossen aus der Türe trat. Es war ein kalter Oktobervormittag, die Blätter der Bäume erleuchteten in letzter goldiger Pracht und die Pferde grasten ruhig auf der Weide. Ich blinzelte in die Sonnenstrahlen und versuchte meine Gedanken weg von der Idylle um mich herum auf meine Mission zu konzentrieren. Unsere Aufgabe: Eine drei-dimensionale Nachbildung (System mapping) unseres Ökosystems bauen, entweder aus den gegebenen Bastelutensilien wie Knete und Federn oder aus Material von draussen – und das alles in 15 Minuten.
So weit so gut. Ich hatte noch nie ein "Ökosystem nachgebaut" und erst vor knapp einem Monat erfahren, was ich überhaupt unter diesem Begriff zu verstehen hatte. Ohne also eine genaue Vorstellung zu haben, was ich genau konstruieren sollte, kristallisierte sich in meinem Kopf eine klare Vision: Ich wollte eine Kastanie. Was um diese Kastanie herum entstehen sollte, wie die Äste und Blätter damit verbunden sein könnten, war nebensächlich; ich verspürte einfach den innerlichen Wunsch mit diesem perfekten runden Kern zu beginnen. Ich trabte los, fand einen runden Steintisch, der in Sonnenstrahlen gebadet unter einem knorrigen Baum stand, und legte dort meine Habseligkeiten ab, bevor ich in Richtig Wald joggte. Meine Augen rasten zwischen den Bäumen hin und her, tasteten den Boden ab. Überall lagen gefallene gelbe Buchenblätter, der Ahorn erstrahlte in leuchtendem Orange, ein farbenfrohes Blättermeer – doch ich suchte vergeblich nach den kleinen braunen Punkten, weit und breit kein einziger Kastanienbaum. Die Zeit tickte. Entmutigt begann ich also, Äste und Blätter vom Boden aufzuklauben und raste zurück zu meinem Steintisch, auf dem ich die verschiedenen Utensilien ineinander steckte, verband, verbog und verknüpfte. Time's up! Ich betrachtete mein Werk. Sollte das mein Ökosystem sein? Schön dreidimensional und ökologisch sah es aus – was jedoch das System darin sein sollte, war mir noch schleierhaft, fehlte doch der essentielle Kern, ohne den mein Ökosystem nicht existieren konnte. Der nächste Teil der Übung war eine Kompass-Betrachtung, in dem wir zu zweit mit einer anderen Person unser Modell aus allen vier Himmelsrichtungen begutachten und darüber reflektieren sollten.
Gemeinsam wanderten wir also um den Steintisch und beurteilten mein Konstrukt aus den verschiedenen Perspektiven. Im Osten beginnend gingen wir weiter über Süden zum Westen, und ich versuchte die Windungen und Kurven zu deuten, wobei ich das Gefühl nicht los wurde, dass ich wie im Deutschunterricht damals, eine spontan entstandene Sache zu interpretieren versuchte, ohne dass diese Begebenheit vielleicht für grössere Deutung gedacht war. Verdrossen stand ich vor meinem gebastelten Konstrukt, versuchte den verschiedenen Perspektiven etwas abzugewinnen und schritt schliesslich weiter zur letzten Station, dem Norden. Da wurde ich plötzlich stutzig. Dort, mitten auf dem Tisch, im Schatten meines Werkes und schon die ganze Zeit direkt vor meiner Nase, lag sie: Eine kleine braune Kastanie, die mir mit ihrem hellen Mondgesicht entgegenlachte.
Und die Moral von der Geschicht'?
a) In der Hektik sieht man's nicht.
b) Innehalten bringt neues Licht.
c) Mit dem Abstand kommt die Einsicht.
d) ..?
Ich lade alle Leserinnen und Lesern herzlich dazu ein, ihre Deutschstunden-Interpretationskünste auszupacken und ihre Moral der Geschichte mit mir zu teilen!
Written by Bea Albermann