Den Hebel für Veränderung finden

Gesellschaftliche Herausforderungen sind komplex und anspruchsvoll. Oft scheint die Möglichkeit einer Verbesserung unerreichbar. In diesem Beitrag berichte ich darüber, wie mich die Methode der Stakeholder Interviews¹ bei einer schwierigen Thematik weitergebracht hat. Es ist ein einfaches Mittel, um sich einen Überblick zu verschaffen und potenzielle Entwicklungsschritte zu erkennen.

Eine schwierige Thematik ans Licht bringen

Die Digitalisierung hat dazu geführt, dass sich die sexualisierte Gewalt gegen Kinder und die damit verbundene kommerzielle Ausbeutung in den letzten zwanzig Jahren weiter verbreitet und an Brutalität stark zugenommen hat – auch in der Schweiz. Noch immer werden diese schweren Verbrechen und seine Folgen sowohl für die Opfer wie auch für die Täter:innen in der Gesellschaft tabuisiert. Denn die vertiefte Auseinandersetzung damit ist sehr komplex, aufwühlend und schwer zu verarbeiten.  

Heilen statt Polarisieren

Diese Art von Gewalt ist mit kaum vorstellbarem Leiden verbunden und die Kenntnis davon löst in der Regel starke Gefühle wie Entsetzen, Wut und Schuld aus. Es ist etwas, das nicht existieren darf und doch im Verborgenen oft und seit sehr langer Zeit geschieht. Es ist gefährlich und schambesetzt. 

Wie also können wir uns als Gesellschaft befähigen, uns der Existenz dieser lebensverachtenden Praktiken bewusst zu werden? Wie können wir kollektiv Kapazitäten aufbauen, um die Dynamiken, welche zu dieser Gewalt führen, zu transformieren?

Hinhören und kollektives Wissen verbinden

Die Stakeholder Interviews, die ich mit Expert:innen aus den unterschiedlichen Bereichen wie Verwaltung, Therapie, Medien, Forensik, Justiz, Strafverfolgung, Seelsorge, Politik und NGOs geführt habe, ermöglichten es: 

  • die Thematik aus verschiedenen Blickwinkeln kennenzulernen.

  • die Bedürfnisse, Meinungen und Erfahrungen zu erfassen.

  • den aktuellen Stand des Umgangs mit der Thematik zu identifizieren.

  • die Befindlichkeiten der Involvierten zu kennen.

  • eigene Annahmen zu überprüfen und zu aktualisieren.

  • die Herausforderungen der verschiedenen Stakeholder zu verstehen.

Für mich persönlich entstand daraus ausserdem:

  • Ein Netzwerk hochengagierter Expert:innen

  • Sicherheit durch Verbindungen mit Menschen und dem Festigen der Materie

  • Erste Anhaltspunkte, wo sich die Hebel für eine Veränderung befinden könnten

  • Stärkung meiner Haltung hin zu Offenheit, Mitgefühl und Mut

  • Ein differenzierteres Menschenbild

Fazit

Zum Thema "Sexualisierte Gewalt gegenüber Kindern" sind viele Informationen in Medienberichterstattungen, Gerichtsurteilen, Statistiken und Studien zugänglich. Jedoch fehlt in der Schweiz der Diskurs darüber, wie wir diese Erkenntnisse verwerten wollen, was es für unsere Gesellschaft bedeutet, welche Rolle jede:r als Bürger:innen einnimmt und wie wir gesamtgesellschaftlich ein Bewusstsein für diese Gewalt und ihre Transformation aufbauen wollen. 

Eine Sprache für das Unaussprechliche entwickeln

Im März 2022 findet in der Schweiz die erste nationale Konferenz für Opferbelange² statt. Diese Veranstaltung wird interdisziplinär organisiert und vermittelt aktuelle Entwicklungen, Herausforderungen und Ansätze in den verschiedenen Bereichen der Opferarbeit. Mit diesem Katalysator wird das Thema der sexualisierten Gewalt an Kindern in der Schweiz ein Stück weiter ans Licht gebracht und gesamtgesellschaftlich bearbeitbar. 

In den vergangenen fünfzig Jahren haben die Schwere und Komplexität der Thematik dazu geführt, dass eine nachhaltige Auseinandersetzung immer wieder verdrängt wurde. Aus diesem Grund beschäftigt sich coeurage³ mit der Frage, wie wir Kapazitäten bilden für einen gesamtgesellschaftlichen Lernprozess, der uns befähigt, erschütternde Ereignisse wahrzunehmen und Hilfe ganzheitlich zu aktivieren, ohne jemanden zurückzulassen. Aktuell erforscht coeurage ein Format, das unvoreingenommene Räume schafft, welche verschiedene Perspektiven - Opfer, Täter, das Umfeld, Institutionen, Politik und Medien - zusammenbringen. In diesen Räumen ist Platz für alles, was gefühlt, gedacht und wahrgenommen wird - mit dem Ziel eine neue, klare Sprache zu entwickeln, die in das kollektive Bewusstsein und Handeln eingeht.

Damit Kinder in der Schweiz sicher aufwachsen und sich entfalten können.
Damit die Dynamiken, die diese Gewalt aufrechterhalten, transformiert werden.

¹ https://www.presencing.org/resource/tools/stakeholder-interview-desc
² https://nko.swiss/ 
³ https://www.coeurage.ch/ coeurage ist eine Initiative, die aus meiner Teilnahme am Catalyst Lab Kohorte 2020/2021 entstanden ist. 



Blogpost von Iris Lenardic, Catalyst 20/21

Iris Lenardic lebt in Basel und arbeitet als Projektentwicklerin, Prozessgestalterin und Facilitatorin. Sie ist diplomierte Sozialarbeiterin und hat einen Master in Sozialer Arbeit mit dem Schwerpunkt “Soziale Innovation” abgeschlossen. Iris Lenardic ist eine Pionierin und in verschiedenen Bewegungen in der Förder- und Aufbauphase engagiert. 2016 machte sie sich im Bereich Soziale Innovation und Organisationsentwicklung selbstständig. Sie entwickelt nachhaltige und soziale Projekte, bringt unterschiedliche Menschen und Gruppierungen zusammen und gestaltet und ermöglicht kollektive Lernprozesse. Iris Lenardic setzt sich für die Entfaltung menschlicher Potentiale und die Stärkung einer inklusiven Gesellschaft ein.

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