Unsere Umwelt, die erste Pädagogin

Andrea Bärwalde beschreibt in ihrem Blogpost “Coronavirus – Karriereknick für unsere Kinder?“ treffend, dass wir gerade in der aktuellen Krisensituation unseren Kindern das Vertrauen zurückgeben sollten im Wissen, dass sie bestrebt sind, sich zu bilden und die Kompetenzen zu entwickeln, die ihnen in ihrem Leben dienen. Das ist ein natürlicher Prozess und alle Eltern, die Kleinkindern beim Spielen zugeschaut haben, wissen, dass die Neugier und der Wille zu wachsen unbändig sind.

Das Pareto-Prinzip besagt, dass man mit 20% Aufwand 80% des Ertrags erwirtschaften kann und man für die letzten 20% Ertrag wiederum 80% mehr Aufwand aufbringen muss. Nun dreht sich in unseren Schulen vieles darum, diese letzten zwanzig Prozent aufzuholen, mit dem fünffachen Aufwand. Ein Blick in die Innovationsforschung zeigt uns, dass wir in Innovationsprozessen (und neues Wissen zu vernetzen ist quasi ein Innovationsprozess) zu mindestens 80% im Fehler sind. Das heisst also, acht von zehn Projekten scheitern. Umso wichtiger ist es, dass man Fehler nicht als etwas Negatives betrachtet, sondern als eine Chance zu wachsen. Wenn wir allerdings weiterhin am Bildungsprinzip der Fehlervermeidung festhalten, führt das dazu, dass wir in eine Fehlerablehnungshaltung kommen, nicht mehr wirklich kreativ und innovativ sein können und letztendlich auch unsere Resilienz verlieren. Denn nur Perfektion ist gut genug. 

Die jetzige Situation bietet die Möglichkeit, dieses Denken aufzubrechen. Eltern und Lehrpersonen merken derzeit vermehrt, dass dieses auf Fehlervermeidung ausgerichtete Auswendig-Lernen unbefriedigend ist. Nicht nur für die Kinder und Jugendlichen, sondern auch für die Eltern, die im Homeschooling diesen Prozess begleiten. Er ist verbunden mit zahlreichen disziplinarischen Interventionen und höchsten Anstrengungen, um die Lernenden bei der Sache zu halten, wenn sie nicht schon vorher völlig darauf konditioniert waren, ihre eigenen Bedürfnisse zu unterdrücken, um stattdessen Dinge auswendig zu lernen, die sie aktuell nicht sinnhaftig zuordnen können. Das meine ich, wenn ich in meinem Video auf Linkedin davon spreche, dass mit der aktuellen Fernlern-Situation nicht einer Kultur der Digitalität Rechnung getragen wird. Das “bewährte” Lern-Klischee wird lediglich in digitale Sphären überführt. Letztere benötigen jedoch von Seiten Lehrpersonen, Eltern und Schülerschaft ein völlig anderes Verhalten. 

Kurz, es geht darum, Digitalkompetenz zu erwerben. Die Kompetenz also, sich in einer hochgradig instabilen Welt ständig neu zu orientieren. Lebenslanges Lernen ist gefragt. Googles ehemaliger Innovationschef Astro Teller sagt, wir Menschen seien stabilitätsorientiert. Da diese Stabilität rund um uns herum jetzt wegfalle, wie wir es unter Corona gerade unmittelbar merken, müssen wir eine neue Form der Stabilität finden. Dynamische Stabilität sei so, als würde man Fahrradfahren. Dort trete man ständig, um das Gleichgewicht zu halten. Auf unser Bildungssystem übertragen bedeutet dies, dass wir unsere Schülerschaft befähigen müssen, selber Probleme zu lösen und herauszufinden, wo wir welches Wissen und welche Kompetenz herbeiziehen können, um einen Schritt weiter zu kommen.

In meinen beiden Artikeln “Was ist eigentlich Digitalkompetenz und wie erwirbt man sie?” und “Die Schule der Zukunft lässt die Kinder lernen” erkläre ich ausführlich, weshalb wir ein neues Kompetenzspektrum brauchen und warum wir dafür unsere Schule neu erfinden müssen.

Dazu haben wir unsere Umwelt zur ersten Pädagogin upgegradet, denn nur was uns persönlich und höchst subjektiv widerfährt, ist das wahre Lernfeld, in dem wir wachsen können. Und dieses Lernfeld umgibt uns jetzt erst recht.

Doch was bedeutet dies für unsere Bildungsinstitutionen und wie lässt sich so etwas konkret in einer Post-Corona-Schule umsetzen?

Im Rahmen unseres Projekts LernHaus Sole befassen wir uns bereits seit zwei Jahren mit der Schule von morgen und haben identifiziert, was es braucht, um unsere Kinder und Jugendlichen für diese neue Welt zu befähigen.

Im Zentrum stehen die Erkenntnisse von Dr. Peter Gray, einem amerikanischen Pädagogen und Psychologen, der untersucht hat, wie wir Menschen von Natur aus lernen und welche sechs Voraussetzungen dazu gegeben sein müssen:

  1. Das Verständnis, dass sich “zu bilden“ die Verantwortung der Lernenden und nicht die der Lehrenden ist

  2. Unlimitierte Möglichkeiten zu spielen, zu erkunden und den eigenen Interessen nachzugehen

  3. Die Möglichkeit, Werkzeuge der Kultur zu nutzen

  4. Sich kümmernde Erwachsene, die Helfer und keine Richter sind, die die Lernenden beurteilen

  5. Altersdurchmischung mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen

  6. Ein stabiles, intaktes und gemeinschaftlich organisiertes Umfeld

Folgerichtig müsste man sagen, dass wir unsere Umwelt zur ersten Pädagogin hochstufen sollten. Ein durchdachtes, themenvariiertes Lernumfeld, in welchem die Lernenden frei explorieren dürfen. 

Unsere Lernbegleiterin Yara Krättli, hat für unser Raumkonzept einen Text geschrieben, der verdeutlicht, wie dieses Lernen in einer zukunftsweisenden Schule aussehen könnte, wenn man das Erleben des Menschen ins Zentrum stellt und welche Kompetenzen des Lehrplan 21 dabei abgedeckt würden:

Ein Kind aus dem Zyklus 1 holt die Dino-Figuren aus dem NMG-Bereich und denkt sich eine Geschichte aus. Es erzählt einem Lernbegleiter seine Geschichte und lernt dabei die Namen der verschiedenen Dinosaurier. Der Lernbegleiter schreibt die Geschichte in einfachen Sätzen auf, so dass das Kind es abschreiben kann (handschriftlich oder mit dem Computer). Wenn das Kind schon selber schreiben kann, darf es den Entwurf selbst anfertigen und mit Hilfe des Lernbegleiters korrigieren und ins Reine schreiben. Die Geschichte kommt dann, vielleicht mit einem Foto oder einer Zeichnung angereichert, ins Portfolio. Wenn das Kind bereit dazu ist, kann es den anderen Kindern seine Geschichte im Kreis präsentieren. Diese könnten dadurch auf die Idee kommen, eine Erweiterung der Geschichte zu erfinden oder es werden Fragen zu Dinosaurier aufgeworfen. Beispielsweise, wann diese überhaupt gelebt haben und welche anderen Zeitepochen unsere Erde bisher durchlaufen hat etc.

Solche Lernmomente können nicht geplant werden. Dennoch findet reichhaltiges, fächerübergreifendes Lernen statt, welches auch den Aufbau der Kompetenzen auf dem Lehrplan nicht ausschliesst. Im oben genannten Fall wären das beispielsweise folgende Kompetenzen:

Die Schülerinnen und Schüler…

D.3.B.1a

können ihre Gefühle und Gedanken sowie Erlebnisse und Erfahrungen verbal oder nonverbal mit Unterstützung zum Ausdruck bringen.

D.4.A.1d

können das ganze Alphabet einer unverbundenen Schrift sowie die Ziffern mit optimalen Abläufen geläufig schreiben.

D.4.A.1de

können mit verschiedenen Schreibgeräten ihre Texte gestalten (z.B. verschiedene Schreibstifte, Tastatur).

D.4.F.1a

können unter Anleitung bei der formalen Überarbeitung erste Regeln beachten: lautgetreue Schreibweise, Wortgrenzen, Eigennamen und konkrete Nomen gross, Satzanfang gross, Punkt am Satzende.

NMG.2.5a

können ihre Vorstellungen zur Geschichte der Erde und von Lebewesen nacherzählen (z.B. aus Geschichten, Berichten, Bilderbüchern) und in eigene zeitliche Vorstellungen einordnen.

NMG.9.1g

können Epochen der Geschichte auf einem Zeitstrahl einordnen.

NMG.9.4a

können fiktive Geschichten von realen Geschichten unterscheiden.

BG.2.A.1a

können eigene Bildideen zu Themen aus ihrer Fantasie- und Lebenswelt entwickeln (z.B. Familie, Tier, Figuren und Fantasiewesen).

Auch der Aufbau der überfachlichen Kompetenzen kann so optimal gefördert werden:

Personale Kompetenzen:

  • können auf ihre Stärken zurückgreifen und diese gezielt einsetzen.

  • können aus Selbst- und Fremdeinschätzungen gewonnene Schlüsse umsetzen.

  • können sich Unterstützung und Hilfe holen, wenn sie diese benötigen.

Soziale Kompetenzen:

  • können sich aktiv und im Dialog an der Zusammenarbeit mit anderen beteiligen.

  • können aufmerksam zuhören und Meinungen und Standpunkte von andern wahrnehmen und einbeziehen.

  • können auf Meinungen und Standpunkte anderer achten und im Dialog darauf eingehen.

Methodische Kompetenzen:

  • können unterschiedliche Sachverhalte sprachlich ausdrücken und sich dabei anderen verständlich machen.

Dies ist nur einer von vielen möglichen Lernmomenten, die sich aus dem Alltag in pädagogisch gut durchdachten Räumlichkeiten entwickeln können. Mit diesen und anhand ergänzender Werkzeuge wie Einsatz von Portfolioarbeit, Lernstandserfassungen mit Mirroco können wir die Kinder optimal in ihrer Entwicklung und ihren individuellen Lernprozessen unterstützen.

Und jetzt?

Werfen Sie einen Blick in den Lehrplan. Sie werden zahlreiche Kompetenzen finden, mit denen sich Ihre Kinder gerade jetzt in ihrer Freizeit ganz natürlich beschäftigen. Vertrauen Sie darauf und geben Sie Raum, dass diese Kompetenzentfaltung stattfinden kann.


Nils Landolt ist Primarschullehrer und Vater von vier Kindern. Zwischenzeitlich hat er im Innovationsmanagement gearbeitet und viel über agile Unternehmensführung und New Work gelernt. Heute verwebt er sein Wissen für eine zeitgemässe Bildung (SDG4) als Catalyst bei collaboratio helvetica. Zusammen mit seiner Frau gründet er derzeit das LernHaus Sole, ein B(u)ildungszentrum für lebenslanges Lernen im Glarnerland.

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